
Vom 15.-17. Juni 2023 fand in den Räumen der Guardini-Galerie (Askanischer Platz 4) in Berlin eine hochkarätig besetzte Tagung zum Thema „Zeitenwende? Unsere Gegenwart nach Romano Guardini“ statt. Mit einem Gottesdienst zum Gedenken an den Religionsphilosophen begann das Treffen. In seiner Predigt zeichnete der Zelebrant Prof. Alfons Knoll, der für den erkrankten Erzbischof Reinhard Kardinal Marx die Leitung des Gottesdienstes in der Kirche St. Clemens übernommen hatte, ein eindrückliches Porträt von Guardini.
Den Auftakt am Donnerstag um 19:00 Uhr bildeten die Grußworte von Akademiedirektor Pd. Dr. Achim Budde, der Politikwissenschaftlerin und Präsidentin der Humboldt-Universität Julia von Blumenthal und dem Präsidenten der Guardini-Stiftung e.V. Prof. Michael Rutz.
Die Keynote für die Veranstaltung trug Prof. Thomas Brose vor, mit dem Titel: „Inspiration auch für die Skeptiker. Vor 100 Jahren kam Romano Guardini nach Berlin.“ Sie ist nachzulesen in Heft 6/2023 der Fachzeitschrift Herder-Korrespondenz (S. 13-15). Drei „Überraschungsgäste“, Freunde des Professors für Philosophie an der Philosophischen Affiliation der päpstlichen Universität Gregoriana in Berlin, ließen ihre je persönliche Beziehung zu Romano Guardini kurz und zugleich brillant aufscheinen.* Beim anschließenden Empfang konnte ein erstes Kennenlernen der Teilnehmenden stattfinden.
Das Kolloquium am Freitag, 16. Juni 2023 begann mit einem Vortrag des Geschäftsführers des Katholischen Bildungswerks in Erding und apl. Professor der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Otto Seitscheck. Sein Thema: Untergang und neuer Anfang. Romano Guardinis „Das Ende der Neuzeit“. Entlang der Kapitel von Guardinis kulturkritischer Schrift, bot Seitschek erhellende Querverweise und Einordnungen u.a. mit Eric Voegelin, Hans Blumenberg, Blaise Pascal, Friedrich Nietzsche und Karl Jaspers. Die a) Rückgewinnung der Personalität des Menschen und eine b) Entschiedenheit im Glauben, in Vertrauen und Tapferkeit resümierte der Vortragende kurz als Essenz von Guardinis Gedankengang. Auf die kritische Rezeption zu „Das Ende der Neuzeit“ ging Seitschek leider nicht ein. Dies hätte als gutes Beispiel, wie auf Augenhöhe auch von Guardini Disputation verstanden wurde und werden kann, dienen können.
Den zweiten Vortrag hielt der renommierte Religionsphilosoph Prof. Dr. Christoph Jäger, der zum Sommer-Semester 2022 die Guardini-Professur in Berlin übernahm und Prof. Dr. Ugo Perone nachfolgte. In seinem hoch anspruchsvollen Beitrag „Hoffnung als Handlungsgrund“ ließ Jäger philosophische und theologische Theorien der Hoffnung, ausgehend von einem Guardini-Zitat, Revue passieren. Eine systematische religionsphilosophische Ausarbeitung über die Hoffnung stehe noch aus, so Jäger. Wer einen Eindruck von Jägers Gedanken bekommen möchte, kann dies in seiner Antrittsvorlesung nachlesen, bzw. kurzgefasst in der Ankündigung des gerade gehaltenen Seminars an der Theologischen Fakultät der HU.
Während der Mittagspause konnten die Ausführungen weiter diskutiert und eingeordnet werden. Fakultativ stand eine Führung durch die Ausstellung „The drunken boat | Federico Solmi“ in der Guardini Galerie statt.
Nicht minder fulminant ging es nach Mittag weiter. Prof. Yvonne zu Dohna-Schlobitten von der Universität Gregoriana in Rom, sprach zum Thema „Romano Guardini und der Ursprung seiner katholischen Welt-Anschauung als Blick auf das Ganze des Kunstwerks und der Welt.“ Bei diesem Beitrag ging es um Guardinis Analyse zum künstlerischen Werk Michelangelos. Für Michelangelo ist der „Blick“, sehen und anschauen sowohl aktiv als auch passiv. Dies passt zu Guardinis philosophischer Weltanschauungs- und Gegensatzlehre, die den Zugriff auf die Welt schöpferisch interpretiert, konkret und dynamisch, immanent und transzendent. (Weiter dazu siehe hier) Yvonne zu Dohna-Schlobitten vermittelte am Beispiel der Analyse der Dichtungen Michelangelos lebendig die große Kenntnis und Sensibilität Guardinis für Kunst und ihre Bedeutung für das philosophische und theologische Denken.
Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie und Philosophische Anthropologie an der ALU Freiburg, ursprünglich angefragt für ein Streitgespräch mit Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, forderte in seinem Vortrag im Zusammenhang von Theologie und Fortschritt, zur biblischen Aufklärungspraxis zurückkehren. Guardini habe sich angesichts der technologischen Herausforderungen als hellsichtiger Beobachter erwiesen. Skepsis bzgl. unserer Lebensverhältnisse sei deutlich angebracht. Wie jedoch die entsicherte Existenz Mensch in der Moderne zu verorten sei, in der die Frage Gott nicht mehr eine bewusstseinsbestimmende Präsenz habe, blieb bei den Teilnehmern umstritten. Unter Bezugnahme auf Kant und mit Axel Honneth plädierte Striet nachdrücklich für das Recht auf Selbstbestimmung und für einen vernunftkritischen Zugang zum Glauben. „Mit welcher Gewissheit rede ich über Offenbarung?“, fragte er.
In vier Wahlworkshops am Spätnachmittag konnten die aufgeworfenen Fragestellungen an konkreten Beispielthemen diskutiert werden. Eine Gruppe um Gabriel von Wendt befasste sich mit dem Thema „Mensch und Technik – Gedanken zum Umgang mit neuen Technologien“. Im zweiten Workshop beschäftigte sich die Journalistin und Politikwissenschaftlerin Dr. Christiane Florin mit der „Frauenfrage“ als Machtfrage in der römisch-katholischen Kirche. Prof. Christoph Jäger besprach näher die am Vormittag vorgestellten philosophischen Theorien der Hoffnung und Helmut Zenz informierte über den Weg von der „Werk-Archäologie“ Guardinis zur vollständigen Werkausgabe. (Guardini-Handbuch)
Unter der Moderation von Dr. Patricia Löwe wurde der Tag mit einer Podiumsdiskussion beendet. Christiane Florin, Hans Otto Seitschek und Joachim Negel tauschten einander aus zum Thema „Vom Sinn der Welt. Guardini und die Frage, wie wir heute religiös sein können.“ Auch diese Diskussion geriet ob der Besetzung des Podiums nach einer Warmlaufzeit überaus spannend. Vor allem die von Prof. Negel und Dr. Florin vorgetragene Kritik am „System“ Kirche wurde von Seitschek zuweilen intelligent gekontert. Allen war das redliche Bemühen anzumerken, Antworten und Auswege aus der Kirchen- und Glaubenskrise zu finden. Dem Veranstaltungsdesign hat es nach Meinung des Verfassers außerordentlich gut getan, dem Publikum deutlich unterschiedliche Meinungen und Positionen zu präsentieren, keine billige Theologierhetorik anzubieten und damit dem Grundrecht auf Wissen, ganz im Sinne Guardinis gerecht zu werden.
Ein I-Tüpfelchen für die Gäste, die am Samstag (17. Juni) noch vor Ort waren, war die von Helmut Zenz angebotene zweistündige Exkursion zu „Guardini in Berlin. Ausgewählte Stationen von der Pariser Straße bis zur Straße des 17. Juni.“ Vom Treffpunkt Bushaltestelle Olivaer Platz/Xantener Straße aus ließ Zenz sein in über 30 Jahren erworbenes Wissen zu Leben und Werk Romano Guardinis an zahlreichen Orten des wohl überlegten Fußwegs aufblitzen.
* Die Schriftstellerin Felicitias Hoppe, der Politiker und DDR-Bürgerrechtler Frank Richter und Prof. Dr. Holger Zaborowski, Theologe an der Universität Erfurt.