Andreas Sturm: Ich muss raus aus dieser Kirche. Weil ich Mensch bleiben will, Freiburg (Herder) 2022.
Gleich vorneweg: Das Buch ist m.E. ein zu diskutierendes „Muss“ für alle hauptamtlich in der Kirche Tätigen. Neben zahlreichen aktuellen theologisch-wissenschaftlichen Beiträgen zur Reformbedürftigkeit der katholischen Kirche und inzwischen nicht wenigen sehr persönlichen Stellungnahmen engagierter Einzelpersonen (Priester, Ordensfrauen, Journalisten, u.a.), liegt mit der Veröffentlichung des zurück- und ausgetretenen Speyrer Generalvikars eine noch nie dagewesene erhellende „Innenansicht“ eines ranghohen Theologen auf dem Tisch. Knackig, mutig, mit Tempo von der Seele geschrieben. Sehr gut lesbar. Keine Abrechnung. Aber vom Verfasser als ein „Abschluss“ gesehen und interpretiert.
Zunächst gilt Andreas Sturm aller Respekt und Dank, hier seine „Seele“ offenzulegen, sein Ringen um Kirche, Glaube, Theologie und um eine zutiefst menschlich-zugewandte Pastoral.
Ich habe die Ausführungen beim Lesen als sehr offen, ja intim erfahren. Sturm liefert geradezu ein „Psychogramm“ seines katholischen Selbst. Da kann jede Replik oder Rezension nur ein vorsichtiges Verstehen-Wollen sein. Mit seiner Transparenz und schonungslosen Selbstkritik macht sich der Ex-Generalvikar überaus angreifbar. Das Buch wird (auch) polarisieren.
Einige Blitzlichter: Mir sind beim Lesen viele Begriffe hängen geblieben, bspw. „Weg einer Entfremdung“, „Gedankenschleifen“, „Kirchen-Sprech“, „Lebensbrüche“, „Ausflüchte und Relativierungen“, „Geistlicher Missbrauch“, kirchliche „Webfehler“, „männliche Seminaristenblase“ etc. Zu jedem Begriff lässt sich Weiter-Denken, auch in Gesprächsgruppen.
Das erste Mal die Luft angehalten habe ich auf den Seiten 18-36, beim Thema Missbrauch. „Eine Perspektive für die Opfer hatte ich noch nicht. Zumindest zu Beginn“, schreibt Sturm. So klar, so ehrlich. Dass und wie er sich eingelassen hat auf die Tragik der Opfer, ist bspw. auf S. 24 ungemein dicht beschrieben. Gut im Nachhinein eingeordnet finde ich Sturms Ausführungen zum Kinderheim in der Engelsgasse, „eine Situation, die ich mir nicht hatte vorstellen können“ (S.29).
Im zweiten Absatz des Buches reflektiert Andreas Sturm den eigenen priesterlichen Werdegang. Eine „klassische“ katholische Sozialisation in meinen Augen, die selbstkritisch vorgetragen wird. Die ein oder andere Jahresangabe hätte mir beim Lesen und Einordnen geholfen…
Ab Seite 59 arbeitet Sturm dann die aktuellen Kirchendebatten ab: Frauenfrage, -Diakonat und -Weihe; Kirche, Homosexualität und Queer-Sein; Zölibat; Macht-System Kirche und Klerikalismus. Hier beschreibt er – auch aus seiner Vita heraus -, warum für ihn der Synodale Weg so bedeutsam ist. Gleichzeitig macht er deutlich, dass ihn diesbzgl. die Kraft und Hoffnung verlassen hat. Bedrückend. Der Wind weht aktuell rauh an Kirchendeck. Die Journalistin Christiane Florin formulierte für sich: „Ich laufe bleibend davon“. Andreas Sturm hat es nicht mehr ausgehalten und konzediert: „Ich muss raus aus dieser Kirche“.
Das Buch ist eine ehrliche Positionierung und kann ein guter Anlass sein, sich offen mit umstrittenen kirchenpolitischen Fragen und auch mit dem eigenen Glauben auseinanderzusetzen. Dafür ist dem Verfasser ausdrücklich zu danken.
Nachtrag.
Das Buch ist unter hohem Zeitdruck entstanden. Andreas Sturm war sicher überaus aufgewühlt. An einigen Stellen hätte ich theologisch stärkere Akzentuierungen erwartet. „Schuld und Sünde kommen mir so unglaublich dominant vor in unseren Gottesdiensten“, schreibt Sturm auf S. 139 und beklagt hier liturgischen Klerikalismus. Da stimme ich gerne zu. Doch ist es mit der Aktualisierung der „Liturgiesprache“ getan? Muss nicht gegen die Überlast der Sünde und gegen die Bedeutungsaufladung des Kreuzes dogmatisch und soteriologisch neu und anders „gewebt“ werden? Welches Verständnis vom „Geist der Liturgie“ legt Sturm an? Das gleiche gilt für seine Darlegungen beim Themenfeld Macht. Da war ich etwas enttäuscht. Aber noch einmal: Kritisieren ist immer leicht. Sturm haut hier ein richtiges Ding raus, an dem man sich abarbeiten kann. Das erwarte ich von Theologie.
Andreas Sturm: Ich muss raus aus dieser Kirche. Weil ich Mensch bleiben will, Freiburg (Herder) 2022.
Auf Amazon eingestellt am 17. Juni 2022
Zum Hintergrund:
Interview von Steffen Zimmermann am 13. Juni 2022 auf dem Portal katholisch.de mit Andreas Sturm: „Ex-Generalvikar Sturm. Die innere Zerrissenheit war jeden Tag da.“
Pressemeldung des Bistums Speyer am 13. Mai 2022 zum Ausscheiden aus dem Dienst von Andreas Sturm. Innerhalb der Meldung befindet sich das Schreiben von Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann an die Mitarbeitenden der Diözese im Wortlaut mit einer persönlichen Erklärung von Andreas Sturm (zum Herunterladen)
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