
Ein Versuch, eher ein Blitzlicht, mit Romano Guardini (und Hannah Arendt) die Herausforderungen des ungerechten Angriffskrieges auf die Ukraine zu verstehen bzw. etwas einzuordnen.
Ich befasse mich aktuell wieder intensiv mit dem Religionsphilosophen Romano Guardini. Die führende Kennerin seines Lebens und Werks, Prof. Hanna Barbara Gerl-Falkovitz fragt zum Ende ihres Buches (Geheimnis des Lebendigen. Versuche zu Romano Guardini, 2019), worin denn bei der Vielfalt und Tiefe der Arbeiten Guardinis seine zentrale Thematik und seine Motivation („Grundanschübe“) liegen. Und auch, auf welches Ziel sich alles bündelt.
Der von ihr unterbreitete Vorschlag lautet: „Guardini hat Gott, den Lebendigen, als Kraft des Werdens gedacht und erfahren.“ Ich betone noch einmal die Begriffe dieses Satzes: Lebendig, Kraft, Werden. Guardini also hat Gott als „ungeheure Initiative“ wahrgenommen. Nach Gerl-Falkovitz eine dreimalige Kraft des Anfangs: Als Anfang der Schöpfung, als Anfang der Erlösung und als Ankündigung Jesu, Erde und Himmel neu zu schaffen. Aufgrund dieser göttlichen Werdekräfte kann der Mensch mitwirken an der „Erlösung und Umwandlung der Welt“. Sie zitiert Guardini: „Gott ist gar nicht so, dass er eine fertige Wirklichkeit und auszuführende Forderungen“ stellt. „Die Welt wird tatsächlich so, wie der Mensch sie macht.“ Der Auftrag des Menschen in der Welt ist Handeln, Guardini nennt es Werk.
An dieser Schwelle des Handelns, des „Werden des Neuen“ scheint die Menschheit aktuell zu stehen. Den neutestamentlichen Begriff finde ich hier treffender als „Zeitenwende“. Und die Menschen in der Ukraine zeigen uns gerade „lebendig-konkret“ (eine bevorzugte Formulierung Guardinis) und zugleich erschütternd wahrzunehmen, wie schwierig das Werden der Welt auf Freiheit, Würde, Demokratie und Autonomie hin sich gestaltet, wie schwierig der neue Anfang ist.
Geradezu deckungsgleich formuliert das Werden des Neuen der Soziologe Prof. Harald Welzer in seinem aktuellen Buch „Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens, 2021“ in einem kleinen, vierseitigen Absatz (Das Neue, 141-144). Welzer paraphrasiert die Denklinien Hannah Arendts aus „Vita activa oder vom tätigen Leben“. Er schreibt: „Für Arendt ist die zentrale menschliche Eigenschaft die Fähigkeit zum Handeln, und zwar frei und widerruflich zu handeln.“ Das Prinzip der „Natalität“, des Geboren-Seins, des neu anfangen Könnens hilft, dem Lauf der Dinge eine andere Richtung zu geben. Welzer fasst zusammen: „Es gibt kaum eine Stelle im Werk von Hannah Arendt, die so berührend und mitreißend ist, wie diese Seiten in der Vita activa. Arendt illustriert die eigentlich philosophischen Kategorien des Verzeihens und Versprechens und Beginnens hier am Beispiel des Handelns von Jesus von Nazareth, bemüht also keine Philosophenkollegen für ihre Argumentation, sondern einen Praktiker der menschlichen Möglichkeiten.“
Es bedarf in der Tat im Moment ungeheurer Initiativen, guter Anfangs- und Werde-Kräfte. Und wir werden die Kategorien des Verzeihens und einander neu Versprechens vielleicht schon bald benötigen, um die Unsicherheit und Offenheit der Zukunft auszuhalten und die Welt neu auszugestalten. Vita activa ist gefragt, auch wenn das Werk schier zu erdrücken scheint. Wir sind angerufen von dem, was noch nicht ist.
Sämtliche Zitate Gerl-Falkovitz aus dem o.a. Buch S. 321-329.
Sämtliche Zitate Harald Welzer aus dem o.a. Buch S. 141-144.
Anm.: Der von mir hier betrachtete Textabschnitt aus dem o.a. Buch von Hanna Barbara Gerl-Falkovitz ist in der Zeitschrift Herder-Korrespondenz 12/2017 S. 33-35 ("Die Welt wird immerfort. Der neue Anfang als Grundmotiv Romano Guardinis) bis auf die ersten 10 einleitenden Zeilen wortgleich abgedruckt, jedoch ohne Anmerkungsapparat.
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