
Die katholische Kirche in Deutschland steht vor der Klärung von zentralen Problemfeldern. Diese werden aktuell beim „Synodalen Weg“ kontrovers diskutiert. Dass die brennenden Herausforderungen und Inhalte teilweise gar nicht so neu sind und theologisch schon vor 50 Jahren in den Blick genommen wurden, zeigt das seinerzeit äußerst umstrittene Werk von Karl Rahner „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“. Mit einem Vorwort von Prof. Michael Seewald versehen, hat der Herder-Verlag die Schrift im Jahr 2019 neu aufgelegt.
Geradezu spannend lesen sich die Reformideen Rahners in den jeweiligen Kapiteln, die vorsichtig höflich und doch theologisch radikal konsequent vorgetragen werden. Man reibt sich verwundert die Augen, was mit Blick auf die damalige Gemeinsame Synode der Jesuit Rahner da auf den Tisch gelegt hat. Als (theologische) Voraussetzung fordert er gleich zu Beginn „eine erste Reflexion auf letzte tragende Prinzipien“ und man fragt sich, ob der derzeitig holpernde synodale Weg das überhaupt im Vorhinein geleistet hat, oder ob er gerade deswegen ruckelt und stottert. Kurz und knackig stellt Rahner nach der doch recht trockenen Einleitung seine Gliederung vor, die drei Fragen entsprechen: 1. Wo stehen wir? 2. Was sollen wir tun? 3. Wie kann die Kirche der Zukunft gedacht werden?
Jetzt nimmt das Werk Fahrt auf. Rahner zerlegt in seiner Situationsanalyse den verbissen „bockigen Konservatismus“ (37) der konkreten Kirche. Die homogene Christlichkeit früherer Kultur und Gesellschaft war und ist für ihn „ein Stück der Homogenität der Kultur und Gesellschaft profaner Art“ (41). Die Situation des Christen heute sei die eines Übergangs. Christen müssten persönlich, frei und kritisch Stellung beziehen können. Die Zeit der homogenen Volkskirche sei vorbei. Konkret teasert Rahner das Problem der „Laienpredigt“ an und fragt, ob das Thema mit so viel „überflüssigen theologischen Bedenken“ behandelt werden müsste. Auch stellt er radikal fest: „Wir sind der Beginn der kleinen Herde.“ (48) Im gleichen Atemzug macht er allerdings sofort klar, dass er damit Getto- und Sektenallüren eines rückwärtsgewandten „bequemen Traditionalismus“ und einer „langweiligen Pseudoorthodoxie“ nicht das Wort reden möchte. Rahner wirbt für eine „offensive Neueroberung“ in bescheidenem Umfang, die Mut erfordert, Widerspruch finden wird und frei und unkonventionell daherkommt.
Sehr tröstlich empfinde ich Rahners Aussage, dass diese Kirche im Wandel „eine Kirche der unvermeidlich Ungleichzeitigen, die sich hoffend und liebend annehmen und ertragen müssen“, ist (53f). Rahner will keinen faulen Frieden, vielmehr eine „Kirche in der Vielfalt der geschichtlich ungleichzeitigen Gruppen“. Polarisierungen und Gruppierungen seien unvermeidlich. Immer aber müsse der „Kampf jeder Gruppe“ ein „Kampf um ein besseres Verständnis der anderen Gruppe sein“ (62). Geschieht dies aktuell beim Synodalen Weg?
Im zweiten Schritt (Was sollen wir tun?) plädiert Rahner für eine charismatisch inspirierte schöpferische Phantasie (66): Mut des Aufgebenkönnens, viri probati, eine entklerikalisierte Kirche, eine dienend besorgte Kirche, Moral ohne Moralisieren. Die Gedanken rappeln nur so in der Mitte des Buches und münden in schöne Gedanken zu einer Kirche wirklicher Spiritualität: „Wo gibt es über alles rationale Andozieren der Existenz Gottes hinaus eine Mystagogie in die lebendige Erfahrung Gottes, die aus der Mitte der eigenen Existenz aufsteigt?“ (107)
„Wir müssen in Zukunft nicht nur eine Kirche der offenen Türen, sondern eine offene Kirche wagen.“ (112). Im dritten Teil wirbt Rahner dafür, sensibel für Menschen zu bleiben, denen nur eine „partielle Identifikation“ mit der Kirche gelingt. Eine ehrliche ökumenische Zielsetzung sei erforderlich. Eine Kirche von der Basis her. Eine demokratisierte und gesellschaftskritische Kirche.
Die von Karl Rahner (vor 50 Jahren!) gesehenen Aufgaben und Chancen lesen sich brandaktuell. Und sie bieten eine theologische Tiefe, die so manchem kirchlichem Synodalgeplauder meines Erachtens fehlt. Zurecht setzt Michael Seewald in seiner guten Einordnung einige Fragezeichen bei den teils radikalen Forderungen Rahners. Das Buch ist auch heute noch hoch inspirierend. Und mutig. Diesen Mut wünscht man sich für eine Kirche der Zukunft.
Karl Rahner: Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance. Mit einer Einleitung von Michael Seewald, Freiburg i.Br. (Herder) 2019.
Auf Amazon veröffentlicht am 6. Oktober 2020.
ANMERKUNG:
Wer sich näher mit der Schrift bzw. mit Karl Rahner beschäftigen möchte, für den setzte ich hier drei Links:
1) Beitrag von Ulrich Ruh (22.05.2018) auf katholisch.de: „Warum wir unbedingt Karl Rahner lesen sollten!“
https://www.katholisch.de/artikel/17593-warum-wir-unbedingt-karl-rahner-lesen-sollten
2) Eine Relektüre des Buches von Dr. Andreas R. Batlogg SJ, veröffentlicht in: Geist und Leben, Nr. 4/2019 (Echter Verlag). Der Text ist über den Link abrufbar und bezieht ebenfalls als Hintergrund den Synodalen Weg ein.
https://andreas-batlogg.de/2019/10/brandaktuell-karl-rahners-strukturwandel/
3) AUDIO: Dreiteiliger Vortrag von Prof. Dr. René Buchholz zur Aktualität des Textes von Karl Rahner. Online-Kurs im Katholisches Bildungswerk Bonn vom Juni 2020.
https://soundcloud.com/medienwerkstattbonn/sets/strukturwandel-der-kirche-als-chance-und-aufgabe
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