
Zentral für das Verständnis des ärztlichen Ethos ist die „Ehrfurcht vor dem Leben“ und die „Sympathie für das Leben“. Der Religionsphilosoph Romano Guardini war stets auf der Suche nach Wertfiguren, dezidiert sittlichen Haltungen, die das Leben und Arbeiten prägen. In einem kurzen Beitrag seiner Münchner Ethikvorlesungen beschäftigt er sich mit dem Kapitel „Der Arzt und das Heilen“.
„Der Kranke will fühlen, dass die Krankheit als ein Lebensvorgang begriffen wird; und das Heilen als ein Akt, der dem Leben hilft, nicht als Reparatur eines Maschinendefekts.“ (962) Deutlich wendet sich Guardini gegen eine mechanistische Grundauffassung des Menschen. Der Mensch ist keine Apparatur, kein Objekt und darf nie Mittel zu irgendwelchen Zwecken werden.
Erstaunlich modern klingen diese Aussagen, die vor ungefähr 65 Jahren niedergeschrieben und vorgetragen wurden. Würde, Freiheit und Verantwortung zeichnen den Menschen aus. Nicht nur als ein Lebewesen, vielmehr als Person. Und ärztliches Wirken hat ebendiese personale Würde des Menschen zu achten. Krankheit soll nicht nur als physiologischer, sondern immer auch als psychologischer Vorgang gelesen werden. Dazu wäre vieles zu sagen betont Guardini und fährt fort: „Die Krankheit ist nicht nur ein biologisches, sondern auch ein biographisches Geschehen.“ (965) Der Arzt, die Ärztin muss ein Auge auf diese Zusammenhänge haben.
Der Vorgang des Heilens ist für Guardini immer auch eine zweiseitige Angelegenheit. „Um heilen zu können, muss der Arzt darauf rechnen, dass der Kranke geheilt sein wolle.“ (969) Eine Atmosphäre der Redlichkeit des Heilens gehört hier zum ärztlichen Ethos. Aber auch viele weitere Momente und Persönlichkeitsmerkmale auf Seiten des Arztes: Der Ernst des Verantwortungsbewusstseins, Dienstwille, die Wachheit der Aufmerksamkeit, die Kraft der Konzentration, der Wille zur Selbstbildung.
Guardini bohrt tief in seinem kurzen Beitrag zum Problem von Krankheit und Arzt. Am Ende seiner Ausführungen setzt er Fragezeichen an den Begriff der Gesundheit als Maßstab. Dass die Gesundheit ein Maßstab ist, steht außer Zweifel. „Der Maßstab wird aber problematisch, sobald wir ihn tiefer zu fassen suchen und fragen: Was ist denn das: gesund? Was ist das: krank?“ Wenn eine Krankheit tiefere Schichten eines ganzen Lebens durchbricht, Verfeinerungen der Sensibilität und Reifestufen der Persönlichkeit zum Vorschein kommen. Wo ist dann der Maßstab anzulegen? Was, wenn es gilt, ein Schicksal zu bestehen und ernst zu machen „mit dem, was es heißt, Mensch zu sein“. (972)
Krankheit ist nicht nur eine Störung, die von außen kommt, sondern auch von innen. „Sie ist dem Menschen endogen.“ (973) In diesen schwierigen, subtilen Fragen zeigt sich, dass der Mensch nicht bloß Natur ist, vielmehr auch Geist. Die Tätigkeit des Arztes überschneidet sich hier mit der des Seelsorgers. Der Arzt muss den Menschen zum Beginn echter Gesundheit führen und begleiten, in „die Annahme seiner selbst; seiner Geschichtlichkeit mitsamt ihrer Tragik“. (975)
Sämtliche Zitate aus:
Romano Guardini: Der Arzt und das Heilen, in: Ethik. Vorlesungen an der Universität München. Aus dem Nachlass herausgegeben von Hans Mercker. Unter Mitarbeit von Martin Marschall. Band 2, 1993,
S. 957-975.
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