
Eberhard Schockenhoff: Die Bergpredigt. Aufruf zum Christsein, Freiburg 2014.
Als Theologe, der vor allem an christlicher Ethik interessiert ist, habe ich diverse „dicke Schinken“ von Prof. Schockenhoff im Regal. Anlässlich des Todes (18. Juli 2020) wollte ich mich noch einmal in sein Schreiben und Denken vertiefen. Die Lektüre hat mir gezeigt, wie wissenschaftlich sauber und abgewogen Schockenhoff seine Argumente vorträgt. Auch, wie behutsam und gleichsam feinsinnig und verständlich er vernünftige, überzeugende Gründe für das Handeln des Menschen anführt.
Das 300-seitige Werk „Die Bergpredigt“ des katholischen Moraltheologen ist nach dem Vorwort in zwei große Teile gegliedert: Teil 1 – Exegetische
und theologische Grundlagen; Teil 2 – Auslegung für die Gegenwart und exemplarische Konkretionen.
Zunächst dachte ich: Auweia! 100 Seiten Grundlagen. Doch hat mich diese Grundlegung gepackt und überzeugt. Die Sprengkraft der Bergpredigt hat immer schon die Menschen fasziniert und provoziert.
Prof. Schockenhoff schreitet das verstörende Potenzial der Bergpredigt Jesu in seiner Deutungs- und Wirkungsgeschichte umfänglich ab. Er nimmt zahlreiche Auslegungsmodelle auf, zitiert,
angefangen bei Augustinus, bis hin zu Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth und bedeutenden jüdischen Theologen so ziemlich alle und alles, was Rang und Namen hat und ordnet die Beiträge transparent
und unvoreingenommen ein. Dabei wird die Theologie des Evangelisten Matthäus und dessen Kompositionseifer und Spiritualisierungstendenz offen dargestellt und die vielfältigen Brennpunkte der
exegetischen Diskussionen werden ausführlich behandelt.
Die Bergpredigt ist – nicht nur für Schockenhoff – der hermeneutische Schlüssel zum Verständnis der Ethik Jesu, Jesu bestes Porträt. Und vor allem eine Ethik der Freiheit. Ob Seligpreisungen, Antithesen, größere Gerechtigkeit, Feindesliebe, Goldene Regel, Vater-Unser-Gebet. In seinen Auslegungen für die Gegenwart (Teil 2) holt Schockenhoff (wissenschaftlich) weit und anregend aus. In leicht kreisenden Bewegungen führt er seinen Gedankengang immer tiefer, holt das Zentrale einer Aussage oder Textstelle nach vorne, vor die Augen des Lesers und ist doch selber zurückhaltend und respektvoll im Urteil. Es sind Leuchtspuren der Handlungsermöglichung, die Jesus in starken antithetischen Kontrastbildern setzt und denen Schockenhoff nach 2000 Jahren intelligent nachgeht.
Neben den drei Grundzügen der Ethik Jesu, der Bedeutung der 1) Gottes- und Nächstenliebe, 2) der Erneuerung des ganzen Menschen, bei dem Wort und Tat übereinstimmen und dem 3) Tun der Liebe, arbeitet Schockenhoff zahlreiche Linien der Gestalt Jesu heraus: Seine Inversionen der Fragerichtung, sein Drängen auf die innere Ausrichtung des Herzens, die Spitzenforderungen des Gewaltverzichts und der Feindesliebe. All das sind Anfragen an unseren eigenen Lebensstil und zugleich heilsame Provokationen. Natürlich stellt sich der Verfasser auch den Fragen nach der Erfüllbarkeit dieser Magna Charta. Ist die Bergrede nicht eine paradoxe Überforderungsethik, politisch ohne Bedeutung, Moral eines naiven Egoismus? In seinen Antworten und Einordnungen spült Schockenhoff die Sprengkraft der Worte Jesu nicht weich: „Die Bergpredigt gibt keine beruhigenden Antworten, sondern sie stellt Fragen, auf die es nur Antworten geben kann, die das eigene Leben verändern.“ (19)
Rund 370 Anmerkungen auf 18 Seiten belegen die Belesenheit und Recherchetiefe des Autors. Ein Personenregister macht das Erinnern und Auffinden leicht. Zu dicht sind die vielen Gedanken, als dass ein einmaliges Durchlesen genügen würde. Die vortragserfahrene und stilvolle Sprache des Moraltheologen macht das Buch zum Genuss. Ich werde wohl immer wieder ins Regal greifen und nach-lesen und empfehle es gerne. Ein beeindruckendes Buch zu einem großartigen Thema.
Rezension auf Amazon eingestellt am 11. September 2020.
Link zum Buch beim Verlag Herder/Freiburg
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